Berge besteigen – Predigt zu Matthäus 28,18-20

8000 ist die magische Zahl des Bergsteigens. Ab hier beginnt die Todeszone. Die Zahl ist das Achttausendfache des Urmeters. Das Himalaja-Gebirge hat 14 Achttausender. Der Mount Everest ist der höchste, 8848 m. 1953 gelang die Erstbesteigung, 1978 erreichten Reinhold Messner und Peter Habeler zum ersten Mal den Gipfel des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff. An manchen Tagen belagern 300 Zelte den Everest. Nicht nur die Menschen leiden unter diesem Andrang, auch die Natur. Der Everest verwandelte sich zunehmend zu einer Müllkippe. Verpackungen, Fäkalien und vor allem leere Sauerstoffflaschen.
Warum nehmen Leute solche extremen Anstrengungen auf sich? Was zieht sie hoch – und all die anderen, die im Urlaub gern „in die Berge“ fahren oder auf den Brocken wandern? Auf einen Berg steigen ist immer etwas Besonderes.
Die Ebene rückt immer ferner, und auf dem Gipfel endlich eröffnet sich die Aussicht weit ins Land hinein bis an die Grenzen des Horizontes. Solch einen Überblick bekommt man nur von ganz oben. Auf der Ebene ist der Horizont oft durch Naheliegendes zugebaut, verstellt eben vom Alltäglichen, auch im übertragenen sine. Man muß manchmal erst die Ebene verlassen, muß hochsteigen, muß das Gewöhnliche hinter sich lassen, um sich Übersicht zu verschaffen und einen Blick aufs Ganze zu bekommen, einen weiten Horizont, der mehr umfaßt als nur die eigenen vier Wände des täglichen Einerlei.

Das gilt auch für unser Leben. Manchmal müssen wir heraus – heraus aus den Problemen, um die wir kreisen. Wir brauchen Abstand, müssen uns lösen, um wieder klar sehen zu können. Manchmal kommen wir schon auf neue Gedanken, wenn wir mit jemandem reden. Oder ein halber Tag anderswo, ein Ausflug, so wie unsere Gemeindefahrt im August. Manchmal braucht es mehr, um innerlich Abstand zu gewinnen.

Zum Abschluß seines sichtbaren Wirkens lässt Jesus seine Freunde auch auf einen Berg steigen. Seinen letzten Willen, sein Vermächtnis, seinen Auftrag will er ihnen nicht unten geben, unten in ihrer Alltagswelt, die zugestellt ist mit Tagesanforderungen, Zeitproblemen und dem alltäglichen Hin und Her. Sein letztes Vermächtnis will er ihnen an einem hervorgehobenen Ort übermitteln, in einem besonderen Rahmen. Denn nicht einen Plan für nur einen Tag will er ihnen mitteilen oder Einzelangaben für die nächste Zeit, sondern die große Orientierung und Richtungsangabe. Die können sie nur erkennen, wenn sie bis zum Horizont schauen. So müssen sie den Weg auf den Berg hinauf antreten. Oben wird sie nicht nur ein schöner Ausblick erwarten, ein Weitblick oder eine Fernsicht. Auf dem Berg erwartet sie Gott. In der Bibel ist ein Berg oft der Ort, an dem Gott den Menschen nahekommt.

Da ist der Gottesberg des Alten Testamentes, Sinai oder Horeb wird er genannt. Als Gott die Israelit*innen aus der Sklaverei unter dem ägyptischen Pharao errettete und sie durch das Rote Meer geführt hatte, schloß er mit ihnen auf dem Sinai einen Bund, sie aßen und tranken miteinander, und Gott vertraute ihnen seine Gebote an. Auf dem Sinai schaute Mose den Abglanz Gottes, als Gott in seiner Herrlichkeit vorüberzog, und fortan mußte er sein Angesicht verhüllen, weil der Glanz Gottes es strahlend gemacht hatte, zu strahlend.
Von einem Berge aus zeigte Gott dem sterbenden Mose das Gelobte Land, bevor die Israelit*innen seine Grenzen überschreiten durften. Auf dem Horeb ging Gott an Elia vorüber, nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, sondern in einem stillen, sanften Säuseln. Und als Perspektive für unsere Welt erzählen die Propheten vom Berg, auf dem sich die Völker der Erde an einem Tisch wiederfinden werden – so wie wir heute beim Abendmahl.
Der Berg – das ist der Ort der Seligpreisungen und der Bergpredigt und der Verklärung. Aber es ist auch der Ort, an dem alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zu Jesu Füßen ausgebreitet liegen und die Versuchung ihm gegenübertritt, die Versuchung der Macht.
Und es ist auch der Ort des Grauens und des qualvollen Dahinsterbens, das Golgatha der Welt, der Gipfel der Einsamkeit und Verlassenheit, wo jedes Warum in endloser Leere verhallt.
Und nun, am Ende des  Matthäus-Evangeliums, Matthäi am Letzten, begegnet uns wieder der Berg, der Berg, auf dem Mensch und Mensch, Mensch und Gott sich begegnen.

Was sind solche Berge bei uns? Wo haben Sie solche Höhen in Ihrem Leben erlebt? Gipfel der Begegnung und Nähe, die Höhen des Erfolgs, Einsamkeit von Zweifel und Versuchung, Gedanken, in die Ihnen niemand folgen konnte? Wem sind Sie auf den Bergen des Lebens begegnet? Was erblicken Sie, was liegt vor Ihnen, wenn Sie von Ihrem Berg Ausschau halten?
Die Freund_innen blicken in das Gottesreich hinein, und sie hören: Ich bin bei euch, die Stimme Jesu. Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.

Auf dem Berg wächst ihnen Weitblick zu. Weitblick, das heißt, nicht nur auf sich zu blicken, sondern sich einzuordnen in einem großen Horizont. Die Freund*innen lernen also etwas Ähnliches wie ein Kind, wenn es langsam größer wird: Zunächst sieht es sich als Mittelpunkt der Welt, bezieht alles um sich herum nur auf sich, Eltern, Geschwister, Verwandte, Freund*innen. Wenn es größer wird, lernt es, sich in größerer Zusammenhänge einzuordnen und sich als einen Teil der Welt zu begreifen.
Auf dem Berg wird auch den Freunden der Blick eröffnet für das Ganze, und sie lernen, ihren Platz zu finden und die Aufgabe, die neu vor ihnen liegt.
Eine Aufgabe haben, die über uns hinausreicht, das verleiht unserem Leben Sinn. Es gibt uns Kraft zum Weiterleben, wenn wir merken: Ich werde gebraucht. Ich, so wie ich bin, und ich kann etwas bewirken. „Es ist wichtig, dass du da bist“, sagt Jesus auch zu uns. Geh hin in meinem Namen.

Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf der Erde, sagt Jesus. Mir ist gegeben alle Gewalt… heißt es in der Übersetzung von Martin Luther. Das ursprüngliche Wort im Griechischen bedeutet aber Vollmacht, exousia, und hat gerade nichts mit der Gewalt zu tun, die wir um uns herum erleben. Wer Vollmacht hat, Autorität, braucht gerade keine Gewalt, keinen Zwang anzuwenden. Martin Luther er hat damit an so etwas wie Regierungsgewalt, Polizeigewalt gedacht.
Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf der Erde – es ist die Macht des Wortes und der Liebe, die Macht der Vergebung und und der Hingabe. Es ist die Macht dessen, der jeden Zwang und jede Gewalt abgelehnt hat.

Die Freunde dürfen furchtlos vom Berg herab in diese Wirklichkeit heruntersteigen. Wieder herunterkommen, wieder auf den Boden der Realität kommen. Nicht auf dem Zauberberg verharren, sondern die Wirklichkeit als Raum entdecken, in dem Christus Gestalt annehmen will und wird – durch sie. Und auch wir – wo wir sind, steht Gott uns bei.

Erst 1953 gelang es, den Mount Everest zu besteigen. Im Jahr 1996 starben innerhalb eines Monats 12 Menschen beim Versuch, den Gipfel zu erklimmen. Warum gehen Leute dieses Risiko ein? Ist es der Wunsch nach dem letzten Kick, danach, sich selbst ganz intensiv bis an die Grenzen zu spüren, nach der Ehre, danach, sich einen Namen zu machen und so ein bisschen unsterblich zu sein? Aber namenlos bleiben bei solchen Touren alle die, die dabei mithelfen, die Träger, der Troß. Die Einheimischen ermöglichen die Spitzenleistungen der finanzkräftigen Europäer und Amerikaner erst.

Jesus liegen solche einsame Spitzenleistungen auf Kosten anderer fern, wo einer herausgestrichen und die anderen in den Schatten gestellt werden. Gemeinsam mit seinen Freunden steigt Jesus auf den Berg. Ihnen allen gilt sein letztes Vermächtnis, ihre Aufgabe sollen sie zusammen vollbringen. Dazu macht er auch uns Mut, und dazu ruft er uns an seinen Tisch und bleibt an unserer Seite, auf den Höhepunkten und auf den Mühen der Ebene.

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis über Matthäus 28,18-20
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