Vergeben dem, was war

Als ich 20 war, habe ich mich sehr darüber aufgeregt, dass das Gesangbuch voller Lieder ist, die von Leid und Tod erzählen. Die vielen Lieder aus dem 30jährigen Krieg waren mir zu pessimistisch und lebensfern. Ich kam erst ins Nachdenken, als Eltern bedauerten, dass das in der (damals) sozialistischen Schule ganz und gar fehle. Höchstens der Heldentod für den Sozialismus komme vor oder das Elend der werktätigen Massen. Aber wie sollten die Kinder darauf vorbereitet werden, mit Leid und Schicksalsschlägen umzugehen?
Inzwischen haben wir ein neues Gesangbuch, und im Religions- und Ethikunterricht werden auch Themen wie Behinderung oder Sterben bearbeitet. Die Ratgeberspalten haben sich sogar in der Kirchenzeitung einen festen Platz erobert. Im Grunde geht es dabei um ein und dasselbe Thema: wie gehen wir mit Schwierigkeiten oder Verletzungen um. Die Rechnung, dass ein rechtschaffenes oder gläubiges Leben davor feit, geht leider nicht auf.
Warum müssen ausgerechnet „gute“ Menschen manchmal einen Schicksalsschlag nach dem anderen hinnehmen, während Hartherzigen und Gewissenlosen Glück, Gesundheit und langes Leben beschert ist? Selbst Hiob, ein Vorbild an Gottvertrauen, musste erleben, wie ihm alles unter den Händen zerrann.
Mehr noch als der Verlust und das Leid selbst kann die Frage nach dem Warum zermürben. Oder die Einsamkeit, wenn Freunde, Nachbarn abrücken oder wenn ihr stummer Vorwurf zu spüren ist: Bist du nicht selbst schuld? Hast nicht die richtige Einstellung gehabt, hast zu ungesund erlebt, hast deine Kinder falsch erzogen…
Hiob geht mit seinem Unglück – jedenfalls zunächst – so um: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? (Hiob 2,10) Damit ist seine Auseinandersetzung freilich noch nicht beendet. Sie fängt eigentlich erst an – viele Kapitel lang.
Eine Antwort auf das Warum, die für alle gilt, gibt es nicht. Sonst hätten die Menschen sie schon längst in goldenen Lettern über ihre Häuser gehängt. Jede/r wird eine ganz eigene, persönliche Antwort finden. Bis wir annehmen können, was uns geschehen ist, braucht es manchmal eine lange Zeit. Annehmen, das heißt für mich: vergeben können dem, was war. Vergeben können nicht nur anderen Menschen, sondern auch mir selbst und den Umständen.
Gott begleitet uns auf dem Weg, das Schwierige anzunehmen und (wieder) heil zu werden.
Und annehmen bedeutet für mich manchmal auch Widerstand leisten. Denn dass alles Leid auf dieser Welt gottgewollt ist, damit will ich mich nicht abfinden.

Predigten in der Passions- und Vorpassionszeit: hier
Predigten in der Karwoche und zu Ostern: hier
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Predigten in der Trinitatiszeit: hier
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