Rezka wollte immer nur eins: malen. Aber als Kind in einer Bauernfamilie blieb dafür nicht viel Zeit. Sie waren sieben Geschwister. Rezka sah zu, daß sie einen guten Schulabschluß schaffte. Sie wurde Physiotherapeutin, heiratete, bekam zwei Söhne. Und dann wurde sie krank. Ihre Augen wurden immer schwächer. Sie konnte nicht mehr allein Fahrrad fahren. Sie sah die Buchstaben in der Zeitung nicht mehr. Mit 46 war sie arbeitsunfähig. Ihr Leben war aus den Fugen geraten. Da kam ein heftiger Sturmwind auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass es voll Wasser lief (Markus 4,37).
Oder Friedrich. Früher war Friedrich ein niedliches Kind mit langen Locken und Kulleraugen. Friedrich vergötterte seine Mama, schnupperte mit Behagen in den Falten ihrer Röcke und bewunderte ihre Ketten und Ringe. Stundenlang zogen seine Schwester und er die Puppen an und aus und kämmten ihnen die Haare. Friedrich bereitete ihnen in winzigen Täßchen Tee auf dem Puppenherd. Zum Fasching trat er stolz als Prinzessin auf. Das wächst sich schon aus, hatte ihn die Mutter damals noch in Schutz genommen, wenn der Vater unwillig brummte.
Doch dann kam Friedrich in die Schule. Die Kinder hänselten ihn, kippten seinen Ranzen aus und bewarfen ihn mit Dreck. Eines Tages erwischte ihn sein Vater, als er ein Kleid seiner Schwester ausprobierte und sich heimlich vor dem Spiegel drehte. Der Vater prügelte ihn windelweich. Das hat jetzt ein Ende, brüllte er, du wirst jetzt endlich ein Mann. Am nächsten Tag meldete er Friedrich beim Boxen an und zerrte ihn jede Woche hin, so sehr Friedrich auch weinte und bettelte. Er wurde zum Psychiater geschickt. Er wurde von Ärzten begafft und selbsternannten Heilern seiner Eltern vorgeführt. Irgendwann war der Glanz aus Friedrichs Augen verschwunden. Er war gefangen im falschen Körper, und jeder Tag lehrte ihn nur eins: Er war eine einzige Enttäuschung für seine Eltern. Sein Leben war aus den Fugen geraten. Da kam ein heftiger Sturmwind auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass es voll Wasser lief.
Manchmal geht es ganz schnell, daß das Leben aus den Fugen gerät: ein Unfall, eine Gewalttat, eine Krankheit so wie bei Rezka. Da ist von einem Tag auf den anderen nichts mehr wie zuvor. Alle Pläne werden über den Haufen geworfen.
Bei anderen wird es zum Dauerzustand. Alkohol macht das Leben zur Hölle, Schulden nehmen die Luft zum Atmen, Kinder gewöhnen sich daran, daß sie gemobbt oder abgelehnt werden, Jugendliche kennen nichts anderes als Gewalt. Das Leben ist kein Leben, so wie bei Friedrich.
Die Geschichte vom Sturm erzählt von Ängsten, die Menschen ausstehen. Angststörungen gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern bei seelischen Erkrankungen. Aber es müssen ja nicht gleich Angststörungen sein. Auch so können Ängste die Menschen lähmen. Weil wir zu viel Angst haben, machen wir zu selten den Mund auf und bleiben stumm. Weil wir zu viel Angst haben, lassen wir ungewöhnliche Gedanken, neue Ideen nicht zu. Weil wir zu viel Angst haben, trauen wir uns nicht zu sein, wie wir sind, lassen uns fremdbestimmen. Die Ängste schnüren das Leben ab.
Das Markusevangelium erzählt nicht nur von den Wellen, die über einzelne Menschen hereinschlagen und das Leben durcheinanderbringen. Es richtet sich an Gemeinden, die befürchtet haben, daß sie im Strudel der Ereignisse untergehen. Es war um das Jahr 70 herum. Die römische Staatsmacht überrollte das Land mit Terror. Der Tempel wurde geschleift, die Häuser der Leute zerstört, Bevölkerung verschleppt. Wie sollten die Menschen überleben, inmitten von Hunger und Gewalt? War ihre Vision von einer anderen Welt und einem Leben in Gerechtigkeit und Solidarität jetzt ausgelöscht? Lohnt es sich noch weiter zu glauben, zu hoffen und zu lieben? Auf diese Fragen spielt für mich, verschlüsselt, die Geschichte vom Boot auf dem See an.
Sind es heute die Hilferufe der Menschen, die auf Plastikbooten über das Mittelmeer treiben? Sind es die Schreie nach Recht in Ländern, die von Machtkämpfen durchgeschüttelt werden, von Korruption und Ausplünderung?
Die Antwort des Markus-Evangeliums lautet: Jesus ist mit im Boot. Er mag schlafen, er wird von Wellen überspült wie alle anderen auch. Aber er ist da. Er ist dort, wo die Leute Angst um ihr Leben, um die Zukunft haben. Und Jesus fragt immer wieder: Was fürchtet ihr euch. Ich bin bei euch. Der Sturm kann sich legen. Gebt nicht auf. Wir können uns dorthin setzen, wo Jesus sitzt, ins Boot zu den Leuten, die den Wellen ausgesetzt sind und sich alleingelassen vorkommen.
Natürlich erzählt das Markusevangelium auch von den Ängsten, die wir selbst haben, wenn unser Leben aus den Fugen gerät. Bis die Stürme uns nicht mehr bedrohen, ist es oft ein langer Weg. Was fürchtet ihr euch, fragt Jesus (Mk 4,40). Ängste müssen ausgesprochen und bearbeitet werden. Manche brauchen Hilfe von außen. Manche müssen weggehen und die Orte verlassen, an denen sie bedroht werden. Bei anderen breitet sich nach langer Zeit der Tränen, der Fragen und des Wandels die Stille wie von selbst in ihnen aus und sie kommen neu ins Reine mit sich.
Friedrich ist in eine andere Stadt gezogen und heißt jetzt Friederike. Sie brauchte viele Kräfte dafür und stand immer wieder vor Hindernissen und Anfeindungen. Noch heute muß Friederike auf verletzende Bemerkungen gefaßt sein, wenn sie auf der Post ein Päckchen abholt und ihren Personalausweis vorzeigt. Noch heute meidet sie ganze Stadtviertel, damit sie nicht zusammengeschlagen wird. Aber sie kann jetzt endlich die sein, die sie immer war. Friederike.
Rezka hat inzwischen nur noch 5 Prozent Sehkraft. Doch sie fährt wieder Fahrrad, zusammen mit ihrem Mann, auf dem Tandem. Und sie malt. Schon seit 20 Jahren. Professionell. Ihre Bilder werden ausgestellt. Auf 17 Einzelausstellungen waren sie zu sehen. Niemand hatte das für möglich gehalten, am wenigsten sie selbst. Rezka braucht sehr gutes Licht und muß ganz nah an die Leinwand gehen, oft mit Lupe.
Rezka Arnuš hat auch das Titelbild für den Weltgebetstag 2019 gestaltet. Frauen in slowenischer Nationaltracht sind darauf zu sehen, ein gedeckter Tisch und die, die sonst am Rand stehen: ein gelähmtes Mädchen, ein tauber Junge und ein Mädchen mit weißer Augenbinde, blind wie sie. Alle sind an den Tisch eingeladen, niemand muß draußenbleiben. Das Leben ist im Lot.
Predigt zu Markus 4,35-41
Andere Predigt zu diesem Abschnitt: Wasser hat keine Balken
Predigten in der Passions- und Vorpassionszeit: hier
Predigten im Kirchenjahr: hier
Markus 4,35 – 41 (Bibel in gerechter Sprache)
Am Abend jenes Tages sagte er zu ihnen: »Lasst uns ans andere Ufer fahren.« Sie schickten die Volksmenge weg und nahmen ihn so, wie er war, im Boot mit. Weitere Schiffe begleiteten das Boot. Da kam ein heftiger Sturmwind auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass es voll Wasser lief. Jesus lag im Heck und schlief auf einem Kissen. Sie weckten ihn und riefen: »Lehrer, machst du dir keine Sorgen, dass wir dabei sind unterzugehen?« Der Aufgeweckte drohte dem Wind und sagte zum See: »Schweig! Sei still!« Da legte sich der Wind, und es wurde völlig still. Er fragte sie: »Was fürchtet ihr euch? Habt ihr noch kein Vertrauen?« Nun ergriff sie große Ehrfurcht, und sie sprachen zueinander: »Wer ist das, dass selbst Wind und See ihm gehorchen?«