Thomas nimmt nicht alles hin

Da ist einer, der eine Geschichte mit Jesus hat. Thomas. Sein Vater hieß Alphäus. Er wird in allen Apostel-Listen erwähnt. Er ist mit Jesus durch’s Land gezogen. Er hat gehört, wie Jesus gepredigt hat. Er hat gesehen, wie Jesus Menschen froh und heil gemacht hat. Er war dabei, als Jesus den Lazarus auferweckt hat. Er hat sich mit Jesus auseinandergesetzt, hat gefragt, hat auf seine Fragen Antwort bekommen. Thomas Alphäus-Sohn war es, auf dessen Anfrage hin Jesus eins seiner sieben Ich-bin-Worte sagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zu Gott als durch mich. (Joh 14,6) Dies Wort würde fehlen ohne Thomas. Das Wort vom Weg und der Wahrheit und dem Leben hätten wir nicht, wenn Thomas nicht nachgebohrt hätte. Er war wohl dicht dran an Jesus, wenn sein Name  immer wieder genannt wird. Und er hat eine Ausstrahlung. Später soll er in Syrien gewirkt haben, bis nach Indien soll er gekommen sein, meldet die Legende. Er hat die Botschaft von Jesus weitergetragen. Er hat seinen Anteil, dass sie ausgebreitet wurde und weiterging.
Auch wir haben unsere Geschichte mit Jesus. Auch wir haben Erfahrungen mit dem Glauben. Heilsame und mutmachende, solche, bei denen wir auf der Suche waren und eine Antwort gefunden haben. Und solche, bei denen etwas offen geblieben ist. Auch durch uns könnte etwas weitergegangen sein in der Geschichte Gottes mit dieser Welt.

Da ist einer, der sogar eine sehr herausragende, wichtige, verdienstvolle Geschichte mit Jesus hat und zum Kern gehört. Aber bei einem hat er Fragen: bei der Auferstehung. Das kann er nicht glauben. Er war nicht dabei. Er lässt sich von den anderen auch nicht einfach etwas erzählen. Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Ein Wunschtraum. Ein schöner, aber eben ein Traum.
Und so fällt er aus dem Kern heraus. Er fragt. Er nimmt nicht alles hin. Auf einmal ist er nicht mehr dabei. Was die anderen erfahren, entspricht nicht dem, was er erlebt. Thomas nimmt seine Sinne ernst, die Gott ihm geschenkt hat, und seinen Kopf, den Gott ihm ja gegeben hat, damit er sich eigene Gedanken macht. Dadurch ist er draußen. Er gehört nicht mehr dazu. Das tut weh.

Wo haben unsere Anfragen, unsere Zweifel einen Raum? Was tun wir, wenn unsere Erfahrungen uns etwas anderes sagen? Sind wir dann auch draußen, wenn wir nicht einfach so nachvollziehen können, was andere erzählen und beteuern? Was wird mit den Sinnen, die Gott uns geschenkt hat? Was wird mit unserem Kopf, den Gott uns gegeben hat, damit wir selbst nachdenken und nicht nur nachplappern, was andere vorerzählen? Daß die Welt in sieben Tagen geschaffen wurde, wird bis heute in fundamentalistischen Gemeinden wörtlich genommen. Wer das nicht glaubt, gilt schnell als ungläubig.

Thomas lässt sich seine Zweifel nicht ausreden. Ihm ist wichtig, dass das, was er glaubt, übereinstimmt mit dem, was er erfährt. Sonst wäre sein Glaube nur eine leere Hülse, ohne Leben. Sonst wäre sein Bekenntnis nur ein Lippenbekenntnis.
Thomas läßt nicht locker. Und es lohnt sich: er bekommt genau auf seine Frage eine Antwort. Nicht irgendeine. Nicht irgendetwas Allgemeines oder etwas, was er nicht wissen wollte. Keine Floskeln oder Allgemeinplätze. Sondern er findet eine Antwort genau darauf, was ihn beschäftigt und umgetrieben hat und was ihm unklar war. Thomas will die Nägelmale sehen und die Hand in die Seitenwunde von Jesus legen. Und so geschieht es. Jesus und Thomas, sie sprechen miteinander. Sie berühren einander. Thomas bekommt seine eigene Ostergeschichte. Eine Auferstehungsgeschichte für einen Zweifelnden.

Jesus nimmt sich des Thomas an. Er lässt ihn mit seinen Fragen nicht allein, sondern würdigt ihn einer eigenen Erscheinung. Damit nimmt er Thomas wieder mit hinein, zurück in den Kern. Und dieser Kern – die anderen – die sind ja so anders auch nicht. Haben die anderen etwa den Frauen geglaubt, die am Ostersonntag früh vom Grab kamen und behaupteten, Jesus lebe? Waren die anderen so über alle Anfragen erhaben? Waren sie wirklich ein Aushängeschild für Mut und Hoffnung – „versammelt und die Türen verschlossen aus Angst vor der jüdischen Obrigkeit“??
Der Kern der Schüler*innen von Jesus, das  ist eigentlich eine Gemeinschaft der Zweifelnden – und eine Gemeinschaft derer, die sich am Ende doch auf neue Erfahrungen einlassen, auf Ostererfahrungen.

Mit dieser Begebenheit und mit den Worten von Jesus: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ endet ursprünglich das Johannesevangelium: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht in diesem Buch geschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“ (30f.) Erst später noch ist ein Kapitel angefügt, und auch diese enthalten ganz unterschiedliche Osterberichte.
Ursprünglich war also die Geschichte von Thomas die letzte. Am Schluß des Evangeliums steht ein Mensch im Mittelpunkt, der seine Fragen und Zweifel ernst nimmt. Von den Lippen des vermeintlich Ungläubigen fließt am Ende der Satz:  „Mein Herr und mein Gott“ (V 28), ein überwältigendes Glaubensbekenntnis, wie ein Ausleger meint. Das Evangelium endet mit der Geschichte von einem, der den Mut hatte, nachzufragen. Und dem Jesus ganz individuell begegnet.
Im ursprünglichen Johannesevangelium ist sie die letzte – so als ob sie hinausweisen würde aus der Bibel. Es ist, als ob sie hinausweist auf uns, die wir sie später lesen. Wir waren ja auch nicht dabei, als Jesus am Ostersonntag mitten im verschlossenen Raum stand. Auch uns wurde es nur vom Hörensagen überliefert. Und auch uns treibt vieles um. Es lohnt sich, wenn wir hinterfragen und nachdenken und uns nicht mit fertigen Sprüchen zufriedengeben, so wie Thomas. Sollte uns es am Ende nicht auch passieren, dass wir unsere eigene Ostergeschichte erleben? Mit Sicherheit anders als die der anderen –  aber genau die, die wir brauchen?

 

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst
aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel      (Erich Fried)

Predigt zu Quasimodogeniti über Johannes 20, 24-29

Predigten in der Osterzeit: hier
Predigten bis Pfingsten und Trinitatis: hier
Predigten im Jahreslauf: hier

 

Aus dem Tagebuch von Thomas
aufgeschrieben von einer jungen Frau aus der Gemeinde

Sangerhausen, April 20..
Jerusalem, 1 Woche nach dem Pesachfest, zur Zeit des Pontius Pilatus

Ich kann nicht glauben, was Petrus, Johannes und die anderen eben erzählt haben. Sie sagten „Jesus lebt“. Sie hätten ihn selbst gesehen und Maria von Magdala hätte recht gehabt, als sie davon gesprochen hatte, dass der Meister aufgestanden sei von den Toten. Aber das kann doch nicht wirklich stimmen!
Na gut, dass Maria so eine Art Halluzinationen hatte, konnte ich mir ja noch erklären – sie ist halt eine Frau und es war sicherlich alles zu viel für sie. Sie hat sich sicherlich Jesus so sehr hergewünscht, dass sie schließlich nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte.
Aber dass die anderen elf Jünger nun auch so seltsames Zeug erzählen – damit hätte ich wirklich nicht gerechnet. Na ja …

 

 

Johannes 20, 19-20.24-29 (Bibel in gerechter Sprache)

19 Am Abend dieses ersten Tages nach dem Sabbat, als die Jüngerinnen und Jünger hinter geschlossenen Türen saßen aus Angst vor der jüdischen Obrigkeit, da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: »Friede sei mit euch!« 20 Als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und die Seite. Da freuten sich die Jüngerinnen und Jünger, dass sie Jesus den Lebendigen sahen.
24 Aber Thomas, einer der Zwölf. der Didymos oder Zwilling genannt wurde, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Die anderen Jüngerinnen und Jünger sagten zu ihm: »Wir haben Jesus den Lebendigen gesehen.« Er aber sagte zu ihnen: »Wenn ich nicht die Wunden der Nägel in seinen Händen sehe und meinen Finger in die Nägelwunden lege und mit meiner Hand in seine Seite greife, dann werde ich nicht glauben.«
26 Nach einer Woche saßen die Jüngerinnen und Jünger wieder drinnen und Thomas war bei ihnen. Jesus kam – die Türen waren verschlossen – und trat in ihre Mitte und sagte: » Friede sei mit euch!« 27 Dann sagte er zu Thomas: »Lege deinen Finger hierher und sieh meine Hände an und nimm deine Hand und greife in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!« 28 Thomas antwortete und sagte zu ihm: »Ich verehre dich und will dir gehorchen, du bist der Lebendige, mein Gott « 29 Jesus sagte zu ihm: »Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Glücklich sind, die nicht sehen und trotzdem glauben.«

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