Samuel ist ein Wunschkind, langersehnt, langerbetet, erwartet und willkommen geheißen – so wie wir es für alle Kinder hoffen und wie wir es auch für die Kinder in der Waisenhausstiftung wünschen würden; vielleicht wäre dann solch eine Einrichtung heute gar nicht mehr nötig.
Und Wunschkinder brauchen selbständige, starke Eltern, die in sich gefestigt sind, damit sie nicht nur so etwas wie lebendes Spielzeug für die Eltern sind, damit die Kinder nicht nur die unbewußten Sehnsüchte und Träume der Eltern erfüllen müssen, sondern sein können, wie sie sind. Wunschkinder brauchen Eltern, die die Kraft und die Größe haben, ihnen einen Raum zu ermöglichen, in dem sie aufwachsen können zu eigenen Persönlichkeiten. Aber die Wirklichkeit, die ist nicht immer so. Samuel ist ein Wunschkind, langerwartet und lang erbetet, und Hanna ist eine – ja selbständige, starke Frau. Für die damalige Zeit agiert sie in erstaunlicher Freiheit – oder sie nimmt sie sich. Keine Spur von unterdrückter oder unselbständiger oder gar eingeschüchterter Frau, in einer Zeit, in der eine Ehe aus mehreren Personen bestand und Frauen sich nicht mal selbst vor Gericht vertreten konnten.
Hanna nimmt ihre Angelegenheiten selbst in die Hand, soweit die in ihrer Hand liegen. Wobei ja genau das der springende Punkt ist, die Quelle ihres Leidens und ihrer Schmach: Sie bekommt einfach keine Kinder, umd damit ist sie erledigt, bei allen anderen, bei ihrer Mitfrau Pennina, und an ihrem Selbstbewußtsein wird dies natürlich auch genagt haben. Trotzdem oder gerade deswegen ist Hanna bemerkenswert selbständig.
„Sie geht allein in den Tempel.
Sie legt ein Gelübde ab, was einigen zunächst erpresserisch klingt, dann aber so verstanden wird: Sie bietet sich Gott als Bundesgenossin an. Sie … vertraut darauf, dass Gott mit ihr, durch sie wirken, ihr einen Sohn schenken kann, den sie ihm überlassen wird.
Sie erklärt sich vor dem Priester Eli, einer Autoritäts- und Amtsperson, bescheiden, ohne devot zu sein, ausführlich und überzeugend.
Nach der Geburt gibt sie ihrem Sohn den Namen „Samuel“.
Bei der nächsten Wallfahrt erklärt sie Elkana, dass sie mit dem Kind dahem bleiben und erst nach der Entwöhnung ihr Gelübde einlösen werde.
Sie bereitet die reichen Opfergaben vor, sie bringt den Sohn in den Tempel, sie erklärt Eli die Erfüllung des Gelübdes.
Sie betet zu Gott. Sie begreift die eigene Erfahrung mit Gott nicht als einmalig /zufällig, sondern als exemplarisch, als Muster für Gottes Handeln. Dafür lobt sie ihn. (Feministisch gelesen. Stuttgart 1989. Band 2, S. 97 f)
Also: Samuel, das Wunschkind – und Hanna, die ideale Mutter?
Trifft das die Wirklichkeit, in der Mütter und Kinder leben, damals und heute?
Ein Psychologe aus Halle hat neulich in der Mitteldeutschen Zeitung über rechtsradikale Jugendliche gesagt: „Wenn man genauer hinschaut, sind das junge Menschen, die sich nach Gemeinschaft, Sicherheit und Führung sehnen.“ „Die Eltern sind ursprünglich verantwortlich dafür, Kindern Geborgenheit, Ordnung … zu geben … führen, ohne zu unterdrücken. Aber sie müssen auch begrenzen und Halt geben.“ Viele Kinder und Jugendliche haben „selbst Gewalt erfahren… Entweder körperliche oder aber seelische Gewalt in Form von Vernachlässigung und Lieblosigkeit.“ Und ich glaube, das betrifft nicht nur rechtsradikale Kinder und Jugendlichen.
Also keineswegs die idealen Eltern. Aber wenn wir bei Hanna genau hinschauen, können wir auch fragen: „Wie ist es möglich, dass Hanna sich von ihrem kleinen Sohn trennen kann?“ Verletzt das nicht beide – Mutter und Sohn? Auch wenn Samuel ihr ganzer Stolz ist – tut es nicht unendlich weh, sich so zeitig von einem Kind zu trennen, von dem Wunschkind dazu?
Und Samuel, was wissen wir, was er empfunden hat, sich als Dreijähriger fernab von Eltern und Geschwistern wiederzufinden bei Eli, dem Priester, und dessen wohl schon größeren Söhnen, von denen in der Bibel wenig später erzählt wird, dass sie „ruchlos“ waren. Zwar besuchten die Eltern ihn jedes Jahr, wenn sie zum Opferfest kamen, und die Mutter brachte ihm Kleider mit, die sie selbst für ihn genäht hatte. Dennoch. Hat Samuel die Tränen heruntergeschluckt? Ein Junge weint nicht? Waren die Besuche ein Ersatz? Haben sie die alten Wunden immer wieder neu aufgerissen? Immerhin, wenigstens kamen sie. Ja, Eli war ihm wohl wohlgesonnen, aber der wurde immer älter und hilfloser gegenüber seinen größeren ruchlosen Söhnen. Dass die den Kleinen gehaßt haben und sicherlich gepeinigt, steht so nicht da, aber es ergibt sich aus der Struktur der Geschichte. Ja, da war der alte Eli. Aber ein Zuhause? Ob ein Tempel ein Zuhause ersetzen kann?
Das Wunschkind Samuel teilt das Schicksal von Kindern, die fernab der Eltern und ohne große Nestwärme aufwachsen. Berichte von Menschen, die etwa in Internaten groß geworden sind, lassen manchmal durchblicken, was das bedeutet. Kein Heim, so gut es auch sein mag, kann je Mutter und Vater ersetzen; es wird immer Ersatz bleiben, und selbst Heimkinder, die aus völllig zerrütteten Verhältnissen kommen, träumen von zu Hause; dem Zuhause ihrer Sehnsüchte.
Es wäre kein Wunder gewesen, wenn auch Samuel innerlich beschädigt worden wäre. Was sich in seiner Seele tat, erzählt die Bibel nicht.
Aber sie schildert Samuel als Knaben, unschuldig und arglos. Und das heißt für mich, dass er seine Unbefangenheit und Offenheit bewahrt hat, ein Stück unverletzter Seele.
Und vor allem: sie berichtet, was sich ein paar Jahre später zugetragen hat: daß ihn des Nachts im Tempel Gott anrief. Samuel hielt es zuerst für Elis Stimme; aber Eli half ihm, Gott zu hören und zu antworten, und Eli half ihm auch, mit diesem Gotteswort umzugehen; denn es war ein Wort des Gerichtes, das Ende über die Familie des Priesters Eli. Das war wohl das erste Mal in seinem Leben, dass Gott zu ihm sprach, das erste von vielen Malen, und am Ende heißt es: „Samuel wuchs heran, und Gott war mit ihm“.
Predigt bei der Einführung der Leiterin eines Kinderheims über 1. Samuel 1, 12 – 28
Hier zu einer anderen Predigt über Hanna und Samuel
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